Exul Christi -
Habilitationsprojekt
zur Kultivierung des Exils im Luthertum des 16.
Jahrhunderts
Auch
nach dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 und
vergleichbaren europäischen
Friedensschlüssen gab es Vertreibungen und Exile
aus Glaubensgründen auch im Luthertum. Im
Reichsgebiet kam es im Zuge der Kontroversen um die
Umsetzung des sog. Augsburger Interim (1548) und in
den Auseinandersetzungen der folgenden Jahrzehnte zu
erzwungenen oder selbstgewählten Exilen z.B. sog.
Gnesiolutheraner, die diese Exile als Ausweis ihrer
Rechtgläubigkeit heranzogen, und die eigene
Situation im Sinne eines aufrechten Bekennertums und
Glaubenszeugnisses (Constantia) deuteten.
Ein
vor allem im Gebiet des ernestinischen Sachsen
wirksamer streng lutherischer Theologenkreis brachte
eine Theoriebildung des Exils(1) hervor, die
personell(2) und argumentativ eng mit der
Neuformulierung der Kirchengeschichte aus
protestantischer Sicht verbunden ist, wie sie im
Catalogus testium veritatis (M. Flacius Illyricus) und
den Magdeburger Centurien hervortritt(3). Diese
Schriften zum lutherischen Exil aus dem 16.
Jahrhundert weisen den Exilierten meist die Rolle von
Märtyrern zu. Sie stilisieren sie zu einer
Bekennerelite innerhalb des Luthertums, die für
die "wahre", d.h. durch die Schrift und
Luthers Werke bezeugte, Lehre oder den Widerstand
gegen weltliche Eingriffe in die Kompetenzen der
Pfarrer, die als Caesaropapismus gedeutet wurden,
Verlust oder Gefährdung ihrer materiellen
Existenz hatten hinnehmen müssen. Diese Deutungen
sind mit Rückbezügen auf die
Kirchengeschichte verbunden(4) und stehen als
Beschreibungen der Gegenwart der Exilanten meist im
Kontext einer apokalyptischen Gegenwartsdeutunng.
In Druckschriften gegenüber einer
literarischen Öffentlichkeit aber auch in
handschriftlichen Dokumenten und persönlichen
Briefen gab sich ein großer Teil dieser strengen
Lutheraner als "Exul" oder "Exul
Christi" zu erkennen. Dabei läßt die
demonstrativ geführte Selbstbezeichnung sich
nicht linear mit den Positionen verbinden, die die
Exilanten in den nachinterimistischen Kontroversen
einnahmen. Sie konnte gleichzeitig von Vertretern
gegensätzlicher Lehroptionen oder in der
Streitschrift eines "Exul" gegen einen
anderen beansprucht werden(5). Mit der Etablierung der
Konkordienformel (1577) und des Konkordienbuches
(1580) ebbte diese Erscheinung merklich ab, auch wenn
einzelne Belege für die Selbstbezeichnung
"Exul" noch im 17., teilweise gar im 18. und
19. Jahrhundert anzutreffen sind.
Die
Exilierungen, die Lutheraner in der zweiten
Hälfte des 16. Jahrhunderts erlebten, waren
Resultat von freiwilliger Amtsaufgabe, Amtsenthebungen
oder Landesverweisen, die weltliche Obrigkeiten als
Zwangsmittel einsetzten. Viele Exules erlebten
regelrechte Exilskarieren, die mit immer neuem
Amtsverlust und Ortswechesl verbunden waren. Zu zu
größeren Absetzungswellen(6) führten
kirchenpolitische Maßnahmen, die eng mit
territorialpolitischen Auseinandersetzungen
verknüpft waren(7) und in deren Verlauf die
Zustimmung zu bestimmten Entscheidungen von allen
geistlichen Amtsträgern(8) flächendeckend
eingefordert wurde(9).
Einerseits
profitierten lutherische Theologen vom Verhalten der
Fürsten, die Teil bekenntnispolitischer
Parteiungen waren und "ihre" Theologen vor
den Auswirkungen kirchenpolitischer
Auseinandersetzungen schützten(10). Andererseits
gerieten nicht selten dieselben Theologen mit ihren
Fürsten in Konflikte um Amtsverständnis und
Kompetenzen der Geistlichkeit. Viele führende
Theologen nahmen Auseinandersetzungen mit weltlichen
Obrigkeiten wissentlich in Kauf, z.B. durch ihren
offensiven Umgang mit grundsätzlich legitimen
Handlungsoptionen innerhalb des Pfarramtes(11). In
Streitschriften und öffentlichen Erklärungen
erhoben die Theologen die Forderung nach
Zurückhaltung weltlicher Obrigkeiten bei
Entscheidungen, die sie der Kompetenz der Pfarrer
zuordneten(12), und fragten nach Legitimation und
Handlungsbefugnissen weltlicher Herrscher in sacris
und circa sacra(13).
1
Vgl. vor allem Johannes Wigand, De persecutione
piorum (1580), Bartholomäus Gernhard, De exiliis
(1575). Die Theoretiker des lutherischen Exils
schrieben auf dem Hintergrund eigener oft
mehrstufiger Exilantenkarrieren.
2
Allerdings sind beide Kreise nicht deckungsgleich.
Während man Nikolaus von Amsdorf als einen der
geistigen Väter dieser Form der Kultivierung des
Exilantentums bezeichnen kann, (vgl. I. Dingel, Die
Kultivierung des Exulantentums im Luthertum am
Beispiel des Nikolaus von Amsdorf, in: Dies. (Hg.),
Nikolaus von Amsdorf (1483-1565) zwischen Reformation
und Politik, Leipzig 2008) verwendet M. Flacius
Illyricus die Selbstbezeichnung "Exul" m.W.
nicht.
3 Vgl. Die kleine Herde der
7000 – Die aufrechten Bekenner in M. Flacius
Illyricus konzeptionellen Beiträgen zur
Neuformulierung der Kirchengeschichte aus
protestantischer Sicht, in: Grad Labin (Hg.): Matija
Vlačić Ilirik III: Proceedings of the 3rd
International Conference on Matthias Flacius
Illyricus, Labin, 22-24 April 2010, Labin (Kroatien)
2012, S. 182-209.
4 Vgl. Gernhard,
De Exiliis, 23v-31v, der einen geschichtlichen Abriss
von Adam als Proto-Exul bis zu den Exilen seiner
Zeitgenossen bietet, in dem er die Exules als
Nachfolger des bereits verfolgten Christus und
Glieder der "wahren" Kirche gegenüber
der römischen Kirche ausweist, die er als
verfolgende Instanz dem Antichristen zuordnet.
Ähnlich auch das geschichtstheologische Motto
bei Wigand, De persecutione piorum, 3r:
"Exulerat Christus, comites nos huius exulis
esse decet, cuius nos quoque membra sumus". Zur
Herkunft des Zitats von Philipp Melanchton vgl. Vera
von der Osten-Sacken, Concordia oder Constantia?
Johann Wigands Exilstypologie von 1580 und die
flacianische Formula Veritatis (1582), in: Rudolf
Leeb (Hg.), Gnesioluthertum und Flacianismus als
Netzwerk, Wien, voraussichlich 2014 [in
Vorbereitung].
5 Z. B. Tileman
Heshusius, Gründliche widerle=gung des falschen
vnnd selbst ange=masten vermeinten vrtheils / Herrn
Niclassen von Ambsdorff / in der Magdeburgischen
sache. Doctor Tilemannus Heshu=sius / Exul Christi...
1564.
6 Gernhard spricht in seiner
Vorrede zu De Exiliis davon, dass "vber die
hundert vnd dreissig / jetziger zeit durch GOttes
verhengnis / in diss gegenwertige Exilium vnd Elende
getrieben vnd verstossen sind".
7
Beispielsweise im Konflikt zwischen ernestinischem
und albertinischem Sachsen in den Visitationen von
1562 und 1569/1570 und 1573, vgl. D. Gehrt, Pfarrer
im Dilemma, in: Herbergen der Christenheit 25 (2001),
S. 45-71. In diesem Konflikt treten sowohl
Kurfürst August von Sachsen als auch Herzog
Johann Friedrich von Sachsen als Schützer ihrer
eigenen und Versorger der im jeweils anderen
Territorium abgesetzten Theologen auf. Vgl. Vera von
der Osten-Sacken, Erzwungenes und
selbstgewähltes Exil im Luthertum.
Bartholomäus Gernhards Schrift De Exiliis
(1575), in: Henning P. Jürgens / Thomas Weller
(Hg.), Religion und Mobilität, Wechselwirkungen
zwischen raumbezogener Mobilität und
religiöser Identitätsbildung im
frühneuzeitlichen Europa. Kolloquium des
Instituts für Europäische Geschichte vom
12.–14. Februar 2009, Göttingen 2010,
(VIEG Beiheft 81) S. 41–58.
8 Betroffen sind neben Pfarrern und Diakonen
auch Schuldiener, Professoren anderer
Fakultäten, Juristen, Mediziner und theologisch
gebildete streitbare Vertreter anderer Disziplinen.
9 In Visitationen im Zuge
religionspolitischer Entscheidungen, nach
Gebietsabtretung oder Herrscherwechsel, in deren
Verlauf das Verbleiben der betroffenen Pfarrer,
Diakone, Schul- oder Kirchendiener in ihren
Ämtern von deren Zustimmung zu bestimmten
dogmatischen Entscheidungen abhängig gemacht
wurde. Im Verlauf von Visitationen abgesetzte
Theologen betrachteten die Visitationsfragen
häufig als casus confessionis und gaben lieber
ihr Amt auf als die geforderte Zustimmung zu leisten.
10 Nicht immer mit deren
Zustimmung: Christoph Irenaeus strebte die
Gelegenheit zum Bekenntnis um ihrer selbst willen an.
1571 lehnte er eine vorsorgliche Versetzung in einem
Schreiben an Herzog Johann Wilhelm von Sachsen-Weimar
ab, weil er sein Bekenntnis gegenüber den
albertinischen Visitatoren verteidigen wollte. Vgl.
Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Loc.
10329/5, f. 193r- 215v.
11
Beispielsweise durch den Einsatz des Kirchenbanns,
z.B. durch Bartholomäus Gernhard während
des Rudolstädter Wucherstreits (um 1565) oder
Verweigerung des Patenamtes, z.B. im sog.
Wesenbeck'schen Handel in Jena (1561). Auch die
Predigtweise der strengen Lutheraner wurde als
grobianistisch kritisiert und mit Erlassen
bekämpft, so z.B. Kurfürst August von
Sachsen in einem Mandat gegen das öffentliche
"flacianische" Gezänk von 1566, vgl.
Theodor Distel, Der Flacianismus und die
Schönburg'sche Landesschule zu Geringswalde,
Leipzig 1879, S. 20-22.
12 Z.B.
Tileman Heshusius, Vom Ampt vnd || gewalt der
Pfarrherr.|| Auch || Wer macht/ fug vnd recht || hab
Pfarrherrn zube=||ruffen.|| TILEMANVS HES-||husius.
D.|| ... || (1561) oder auch RESPONSIO EXVLVM
TVRINGICORVM AD INVECTIVAM D. IOHANNIS Stosselii,
qvam mense Octobri anno M.D.LXV. Emisit. (Eisleben
1567).
13 Georg Walther d.
Ä., Vom ampt der welt=||lichen Oberkeit/ nach
ordenung der Ze=||hen Gebot/ aus Gottes wort/ vnd
B[ue]chern || Doct.Lutheri/ gestellet || Durch.||
Georgium Walther M.Prediger zu Halle || in
Sachssen.|| Anno 1558.||; Matthias Judex, Ob eine
Herrschaft/ mit gutem Gewissen Gelehrter/ sonderlich
aber den Theologen/ möge verbieten in Jhren
Landen nichts ohn ihr Erkenntnuß oder
Gutheissen trucken zu lassen (Wismar 1564) oder
wesentlich später: Alexander Utzinger,
Christlicher Sendbrief || An alle fro?me Christen/||
die jtzo vmb der Euangelischen warheit willen || von
jhrer eigenen Obrigkeit/ wider Gott vnd Recht/||
verfolget/ geplaget vnd verjaget werden/…,
(Schmalkalden 1588).